Lasst die Filterblase platzen!
Ich bin weder Zukunftsforscherin noch Wissenschaftlerin. Doch ich beobachte die Welt, in der wir leben und stelle mir Fragen. Ich sehe und spüre, wie sie sich verändert – schneller denn je. Noch vor einem Jahr erntete ich ungläubige Blicke, wenn ich davon sprach, dass „etwas“ in unserer Welt sich unwiderruflich bewegt durch die Digitalisierung. Doch die Zahl derer, die diesen Eindruck teilen, wächst stetig. Immer mehr Filme zur neuen Arbeitswelt, Literatur, Vorträge und Initiativen tauchen auf. Die „Filterblase“ der Eingeweihten weitet sich aus. Und gleichzeitig ignorieren noch viele Menschen diese Entwicklung – ganz so, als würde es sie nicht betreffen. Genau das ist die Chance für disruptives Denken. Es taucht ungeplant und plötzlich auf. Es gilt, die Filterblasen anzustechen, damit sie in Kontakt treten mit der Welt „da draußen“.
„Out of the Box“ – Von den Grenzen des eigenen Denkens
Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich vor zwei Jahren den Eindruck, beim Denken ständig an Grenzen zu stoßen, ein zu kleines Gehirn zu haben für das, was ahnend in mir aufsteigt. Vielleicht habe ich auch zum ersten Mal wirklich begonnen, „out of the box“ zu denken und mich nicht zufrieden zu geben mit den Antworten, die ich schon kannte. Auslöser für dieses „Denkerlebnis“ war wie so oft ein äußeres Ereignis. In diesem Fall war es eine an Ebay erinnernde Honorarverhandlung über eine anonymisierte Online-Plattform bei einem großen Unternehmen. Im Vorfeld traten an die Stelle persönlicher Ansprechpartner über Monate wechselnde Telefonstimmen. Die Mitarbeiter wurden bewusst alle drei Monate versetzt, um mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Kundenbeziehung zu verhindern. Aufgrund der kurzen Verweildauer an einem Arbeitsplatz waren die Mitarbeiter nicht in der Lage zusammenhängende Informationen zu vermitteln. Für ihre wenig aussagekräftigen „Informationshäppchen“ entschuldigten sie sich beschämt, unzufrieden mit der geringen Qualität ihrer Arbeit als Folge interner Strukturen, denen sie sich ausgeliefert sahen.
Welche Zukunft hat die Arbeit ohne Kundenbeziehungen?
Ich fragte mich, was fehlende Kundenbeziehung und ein anonymisiertes Ausspielen externer Anbieter über eine digitale Plattform bedeuten mochten für die Qualität und Zukunft der Arbeit. Und ich begann zu ahnen, dass dies erst der Anfang sein würde einer Entwicklung, deren Regeln ich gerne verstehen wollte, um sie mitzugestalten. Ich erkannte, dass das, was da aufzieht, äußerst komplex und vielschichtig ist, zu komplex, um es alleine zu denken, zu flüchtig und ambivalent, zu granularisiert, um es ausschließlich linear und eindimensional zu betrachten. Die Zukunft, die langsam vor unseren Augen auftaucht, erfordert ein anderes Denken und eine veränderte Haltung an das Leben, an uns selbst und die Welt um uns herum. Diese Ahnung war vielleicht ein erstes Zeichen einer verstörenden Idee, ein erster Ausdruck von disruptivem Denken.
Vom Ahnen und der Suche nach dem Sinn
Otto Scharmer spricht bei dieser Ahnung der Zukunft von der “Emerging Future“. Ulrich Grober lehnt seinen Buchtitel einem Zitat Arundhati Roys „Vom leisen Atem der Zukunft“ an. Christoph Kucklick beschreibt in seinem Buch „Die granulare Gesellschaft“, um nur ein paar aktuelle Beschreibungsansätze zu nennen.
„Die Emergenz (lat. emergere „Auftauchen“, „Herauskommen“, „Emporsteigen“) ist die Herausbildung von neuen Eigenschaften oder Strukturen eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Emergenz)
Genau so fühlt sich diese Ahnung an, die keine mehr ist. Ich begann, mich auf meine Werte zu besinnen, begann darüber nachzusinnen, was genau mich an dieser Erfahrung mit einem großen Konzern so verstört hatte, was (Zusammen)Arbeit für mich bedeutet und welche Rolle Sinn und sinnstiftendes Leben und Arbeiten für mich hat. Durch diese Negativerfahrung aus dem Bereich der Arbeit der Funktion von „Sinn“ einen so hohen Stellenwert beizumessen, war eine disruptive Idee, die große Auswirkungen auf meine spätere Entwicklung haben sollte.
Heute bin ich für dieses Erlebnis sehr dankbar. Ich erlebe mich viel stärker als Teil einer Entwicklung und Teil des Ganzen. Es ist wie nach einem langen Schlaf aufzuwachen und die Welt ganz neu zu betrachten:
Willkommen in der VUKA-Welt
Als Einzelkämpferin auf dem Markt bestehen zu wollen, wird zunehmend schwierig. Vernetzung, Kollaboration und Kokreation treten an die Stelle. Im Außen spiegelt sich das Bedürfnis nach Ausweitung, Verbindung und Flexibilität in digitalen Netzwerken, Projektarbeit und allgegenwärtiger Disruption angenommener „Sicherheiten“ wieder. Die Bereitschaft, uns selbst und wie wir etwas tun, immer wieder in Frage zu stellen, wird eine Grundeigenschaft unseres Lebens. Willkommen in der VUKA-Welt.
Ich erkenne , dass mein Wissen unzureichend ist für das, was es heute zu bewältigen gilt. Ich beobachte, dass meine Gedanken nur schwer ihre festgefahrenen Bahnen verlassen, und ich damit augenscheinlich nicht alleine bin. Wie kommt es, dass es anderen Menschen ähnlich geht? Warum steigen Krankenstand, Erschöpfung, Angst und Widerstand gegen „Change“? – Ich glaube, viele Menschen spüren (un)bewusst, dass sie nicht vorbereitet sind auf das, was kommt und was ihnen abverlangt wird. Es gibt so etwas wie ein generelles Unwohlsein, Unsicherheit darüber, wie mit dem, was heraufzieht, umzugehen ist. Wir spüren, dass wir möglicherweise nicht ausreichend gerüstet sind für die künftigen Veränderungen. – Fehlt es uns möglicherweise an disruptivem Denken?
Was brauchen wir für die Zukunft?
Doch was bereitet uns Menschen denn vor auf das Leben? – Zuallererst doch einmal Bildung und Erziehung: Elternhaus, Schule, Ausbildung und Studium. Und wie gut bereiten uns diese Instanzen auf das Leben vor? Trotz aller Reformen hat sich in den Bildungsstrukturen und ihrer Vermittlung seit Jahrhunderten wenig geändert. Es wird weiterhin mit Noten gelobt, gestraft und verglichen. Kindern erfahren, dass sie „nicht okay“ sind, weil ihre Noten nicht den Erwartungen entsprechen. Viele quälen sich auch noch als Erwachsene mit lebenslangen Minderwertigkeitskomplexen und leiden unter dem Vergleich mit anderen, die ihrer Meinung nach „erfolgreicher“ sind als sie selbst. Was belohnt wird, ist Gedächtnisleistung – meist nur die des Kurzzeitgedächtnisses. Disruptives Denken jedoch wird nicht gefördert.
Eine kluge Frage leitet unser Leben: „Warum soll ich das lernen?“
Auch heute noch erhalten Kinder auf Fragen wie „Warum soll ich das lernen? Was hat das mit mir und meinem Leben zu tun?“ nur unzureichende oder keine Antworten und quälen sich durch Unterrichtsinhalte, die sie nur in den seltensten Fällen im späteren Leben je wieder aktivieren müssen. Was aber motiviert uns, zu lernen? Was passiert, wenn wir diesen Impuls in uns nicht mehr wahrnehmen? Wann haben wir verlernt, auf diese innere Stimme zu hören und ihr nachzugehen? – Jeder, der ein Hobby hat, sich ehrenamtlich engagiert oder andere Erlebnisse selbstvergessenen Tuns kennt, weiß, was Motivation bedeutet und zu welchem Einsatz wir in der Lage sind, wenn wir wirklich motiviert sind. Wahres Interesse an einer Sache mit einem Bezug zu unserem persönlichen Erleben, zu haben. Etwas, das uns tief berührt, mit dem wir uns verbinden können.
Das Ende disruptiven Denkens
Im Unterschied zu Kindern fragen Erwachsene oft gar nicht mehr: „Weshalb sollte ich das tun?“. Sie haben gelernt, dass sie sich damit unbeliebt machen. Denn wer nachfragt, kostet Zeit und wird häufig als unbequem oder unqualifiziert wahrgenommen. Also tun sie so als ob, denken sich „ihren Teil“ oder ziehen sich ganz zurück. Das ist das Ende von disruptivem Denkens, Veränderungsbereitschaft und Innovation.
Steigender Krankenstand, kurzfristige Absagen und Ausfälle, innere Kündigung, Schweigen oder gelangweilte Reaktionen wie „Das haben wir immer schon so gemacht“ oder „Oh je, schon wieder was Neues“ lassen Führungskräfte, Personalentwickler und Berater verzweifeln. Wie oft bekomme ich in Unternehmen zu hören: „Wenn wir nur wüssten, wie wir die Haltung unserer Mitarbeiter verändern könnten?“
Und jetzt? – Vom Umgang mit Besuchern
Als Coach und Trainerin weiß ich um die Rolle der Motivation von Teilnehmenden und Coachees. Und ich investiere bei Bedarf viel Zeit zu Beginn einer Maßnahme, aus „Besuchern“ „Kunden“ zu machen, also herauszufinden, was die Menschen brauchen, um mit Freude und Motivation dabei zu sein, um mit Steve de Shazer zu sprechen. Wenn dies gelingt, ist die Zeit einer Trainingsmaßnahme auf Augenhöhe von hoher Dichte und Erkenntnistiefe für alle Beteiligten. Ohne diesen Schritt handelt es sich um pure Kosmetik. Der nächste Windstoß wischt alles weg, als sei es nie gewesen.
Die Frage nach dem ‚Warum’, ist die Frage nach der Motivation. Motivation, das tiefe Interesse, die Lust an der Entdeckung, ist die Quelle der Kreativität. Wenn ich dankbar für diese kluge Frage bin, auch und weil sie unbequem ist, habe ich eine Chance, den anderen zu erreichen. Mit dieser Frage wird disruptives Denken erst möglich.
Gemeinsam Denken und „F ü r etwas sein“ auf dem EduWorkCamp
Die Komplexität unserer Welt wächst und erfordert von uns allen ein erweitertes Denken. Doch wie sollte dieses erweiterte Denken aussehen? Welche Haltung ist notwendig, um zukunftsfähig zu sein? Wie vermitteln wir dies unseren Kindern und welche Chancen haben wir als Erwachsene im Arbeitsprozess, umdenken und neu denken zu lernen? – Mit diesen Fragen wollen wir uns interdisziplinär auf dem EduWorkCamp 2018 vom 16.-17.11.2018 im Schloss Herborn beschäftigen
Neue Laptops für die Grundschulen oder die Initiative Arbeiten 4.0 des Ministeriums für Arbeit reichen nicht aus für Zukunftsfähigkeit. Sie sind ein Schritt. Doch Kritik allein ist wenig hilfreich. Es geht darum, konkrete Vorschläge zu entwickeln, neue Wege zu gehen. Diese Aufgabe betrifft uns alle. Wir können sie nicht einfachan Ministerien oder dritte Instanzen delegieren. Wenn wir die Zukunft mitgestalten und f ü r etwas sein wollen, dann ist unsere Selbstorganisationsfähigkeit gefragt.
98% der Kinder sind Genies
In seinem Film „Alphabet“ von 2014 rechnet Erwin Wagenhöfer mit dem traditionellen Bildungssystem ab und zeigt am Beispiel Chinas, was passiert, wenn Kinder ein extrem leistungs- und wettbewerbsorientiertes Bildungssystem durchlaufen. Gleichzeitig macht er Mut, ausgetretene Wege zu verlassen und neue Wege zu suchen. Mit Komplexität und Uneindeutigkeit umzugehen, setzt Offenheit und Kreativität voraus. Die Grundlage von Kreativität ist unangepasstes, unkonventionelles Denken (divergent thinking). Kinder bringen dieses unkonventionelle Denken mit. Sie können disruptiv denken. Doch unser Bildungssystem trainiert es ihnen Schritt für Schritt ab. Ken Robinson spricht davon, dass uns die Kreativität regelrecht ausgetrieben wird. Die in „alphabet“ zitierte Langzeitstudie an Kindern über „divergent thinking“ ist alarmierend:
Demnach besitzen 98% der Kinder im Alter von 3 bis 5 Jahren das Genie des „divergent thinking“ (unkonventionelles Denken). Mit 15 Jahren sind es gerade noch mal 10% und ab 25 Jahren aufwärts nur noch 2%.
Und was sind wir?
Die gute Nachricht: Wir alle werden mit der Fähigkeit, unangepasst zu denken, geboren. Mit Eintritt in die Schule verkümmert diese Fähigkeit mehr und mehr. Weshalb? Die Antwort des Films: In der Schule lernen wir Schritt für Schritt, dass es auf eine Frage nur EINE Antwort gibt. Wir verlieren dabei die Fähigkeit, viele mögliche Antworten auf eine Frage zu finden. Wir lernen linear in Sicherheiten zu denken statt mehrdimensional in Komplexitäten.
Und verlieren damit genau das, was wir in Zeiten der Digitalisierung und disruptiver Entwicklungen benötigen, um die Zukunft mitzugestalten und nicht hilflos von ihr manipuliert zu werden. Wir verlieren die Gewohnheit disruptiv zu denken.
Viele Antworten auf eine Frage
Anstelle einer Kultur positiven Denkens und einer Kultur des Ausprobierens, wie sie Christoph Keese in seinem Werk „Silicon Valley“ fordert, erleben wir Lähmung, Unsicherheit und Angst vor Risiko. Eindimensionale Antworten geben uns keine Sicherheit mehr und das Bewusstsein wächst langsam, dass mehr Desselben keine Garantie für Erfolg mehr ist. Viele Unternehmen und Mitarbeiter sind jedoch noch nicht so weit, dass sie den Mut zur Veränderung leben. Scheitern gilt immer noch als Makel statt als Ausdruck von Entdeckerfreude und Mut. Karrieren mit Brüchen werden als Zeichen von Versagen gewertet. Doch das wird sich laut Keese ändern. Solange diese Haltung fortbesteht, geht der „Braindrain“ aus Deutschland weiter. Viele kluge Köpfe wandern dorthin, wo sie disruptiv denken dürfen und dafür Anerkennung ernten. Allzu glatte Karrieren werden künftig mit „Ideenlosigkeit“ in Verbindung gebracht und Scheitern von Applaus begleitet als Ergebnis mutigen Unternehmertums. Diese Entwicklung zeichnet sich bereits ab in Unternehmen, die Inkubatoren, interne StartUps und andere Initiativen fördern und nicht mehr fragen: „Auf welcher Universität haben Sie studiert?“ sondern fragen „Haben Sie Lust darauf, das einmal auszuprobieren? Trauen Sie sich das zu?“.
„Pivoting“ und Positives Denken: Testen und Ausprobieren
Mut zum Ausprobieren, zum Austesten und situativem Anpassen oder „pivoting“ sind zukunftsfähige Eigenschaften. Wer allzu sicherheitsbetont ängstlich abwartet und vorsichtig plant, während ein anderer schneller ist und einfach umsetzt, was zu tun ist, bleibt zurück. Sicher gilt dies nicht für alle Situationen des (Arbeits)Lebens, aber doch für mehr als wir das in unserer sicherheitsorientierten Planungskultur gelernt haben. Hier können wir „Deutschen“ viel von anderen Kulturen lernen, bei denen „trial and error“ „se débrouiller“ oder auch „la creatività“ hoch anerkannt und früh geübt werden. Heißt das womöglich auch, dass andere Kulturen uns unter Umständen im disruptiven Denken voraus sind?
In einer disruptiven Welt brauchen wir starke Menschen, die sich ihrer Potenziale und Kraft bewusst sind, die ihre Talente kennen und ihr Genie bewahren, um sicher durch die volatile Welt zu navigieren.
New Work: Eine Arbeit, die wir wirklich wirklich wollen
Diese Kultur beginnt eindeutig bei den Kindern, in dem wir andere Rahmenbedingungen in und rund um Schule und Erziehung schaffen. Gerald Hüther spricht davon, dass wir Menschen nicht bilden, sondern sie nur einladen können, sich freiwillig mit Inhalten und Fertigkeiten auseinanderzusetzen. Jeden Menschen in seiner Verschiedenheit ernst zu nehmen, fördert die Entwicklung starker Menschen und verhindert Konkurrenzdenken, sagt Arno Stern. „Menschen geben ihr Bestes, wenn sie tun, was sie lieben, wenn sie in ihrem Element sind. Wenn Menschen ihr Talent spüren, wenn sie entdecken, was sie können, werden sie zu einem anderen Menschen“, betont der Film „alphabet“. Und Fritjof Bergmann spricht von New Work als einer Arbeit, die ich „wirklich wirklich will“.
Es geht also darum, Kinder entdecken zu lassen, wer sie sind, was sie wirklich wollen und sie in ihrem disruptiven Denken zu unterstützen. Denn damit haben sie eine Chance zu finden, was sie „wirklich wirklich wollen.“
Das „schlafende“ Genie wecken
Digitalisierung und ihre disruptiven Herausforderungen an den Arbeitsmarkt erfordern auch eine neue Betrachtung des erwachsenen Menschen und seiner Potenziale. Auf der anderen Seite geht es darum, das „schlafende Genie“ in uns Erwachsenen jeden Alters wieder zu wecken. Was muss passieren, damit die Menschen sich öffnen für Veränderungen und beginnen, disruptiv zu denken und zu handeln, wenn Arbeitsplätze verloren gehen oder sich so sehr verändern, dass sie in nichts mehr dem ähneln, was wir einst gelernt haben?
Wir laden Sie ein, im EduWorkCamp vom 16.-17.11.2018 im Schloss Herborn unser schlafendes Genie zu wecken und zu erfahren, wie wir mit Freude unangepasst denken.