Eigenständig denken – Transformationskompetenz entwickeln
Immer mehr Menschen fordern weltweit ein neues zukunftsorientiertes Bildungssystem. Sie suchen nach einer neuen Haltung zu Lernen, Veränderung, Erziehung, Weiterbildung, Qualifizierung, Erwerbsleben und Nicht-Erwerbsleben. Sie fordern Bildung, die Menschen befähigt, intrinsisch motiviert zu lernen, Erziehung, die erlebnisorientiert ist, Kreativität fördert und eigenständiges Denken anregt. Es wird immer deutlicher, dass wir genau dieses eigenständige Denken benötigen, um mit den aus der Digitalisierung resultierenden Veränderungen umzugehen. Eigenständiges Denken ist eine wichtige Grundlage für Transformationskompetenz, der Fähigkeit mit Wandel umzugehen
Das EduWorkCamp: Lernraum und ‚Thinking Environment‘
In „Time to Think“ beschreibt Nancy Kline, wie eigenständiges Denken durch echtes Zuhören und den Dialog in einer Gesellschaft der Vielfalt möglich sind und wie ein Thinking Environment entsteht.
Das EduWorkCamp als BarCamp schafft dieses so seltene ‚Thinking Environment‘. Es ermöglicht den Lernraum, um einzutauchen in eigenständiges Denken und Zuhören – ohne Konkurrenz und Wettbewerb. Die Faszination dieses Raumes, der erweitertes Denken, wachsende Offenheit und die Entwicklung neuer bisher noch ungedachter Gedanken in einem interdisziplinären und intergenerationalen Austausch ermöglicht, wurde im ersten EduWorkCamp im November 2017 für alle Anwesenden erfahrbar. Durch die Doppelrolle als TeilNehmer TeilGeberin gestaltet jeder Anwesende gleichsam Transformation mit. Dies erhöht das Vertrauen in die eigene Transformationskompetenz.
Sind unsere Werte hilfreich für eine gelingende Zukunft?
Der Soziologe und Politikwissenschaftler Prof. Dr. Hartmut Rosa spricht in seinem Werk „Resonanz“ von der „Annahme, dass die eigendynamische, selbstzweckhafte Steigerungslogik der Moderne das menschliche Weltverhältnis immer stärker belastet – oder gar selbst schon Ausdruck und Ausfluss eines problematischen Weltverhältnisses ist.“ (S. 53) – Was meint er damit? – Wir leben in einer Welt, in der viele Menschen immer weiteres Wachstum inzwischen bezweifeln. Die Identifikation mit „Werten“, auf denen unser Wirtschaften und unsere Gesellschaft fußen, gerät ins Wanken und es entsteht vielerorts Widerstand. Dies zeigt sich im Erziehungs-, im Bildungswesen, in der Wirtschaft, ebenso wie im sozialen Sektor. Aus diesem Grund ist auch das Interesse an den Fragen des EduWorkCamps groß. Es gibt so etwas wie ein Unwohlsein, eine Hilflosigkeit gegenüber scheinbaren „Sicherheiten“, die zunehmend in Frage gestellt werden, weil sie keine Antworten mehr liefern für ein gelingendes Leben, Lernen und SEIN. Das Vertrauen in die eigene Transformationskompetenz hat abgenommen. Ein Gefühl von Ausgeliefertsein bemächtigt sich vieler Menschen.
Ideen von Veränderung kalibrieren statt linearem Management
Dr. Maja Göpel, Generalsekretärin des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Global Umweltveränderungen, sagt auf dem „Nachhaltigskeitsdialog“ in Wiesbaden am 08.03.2018 sehr deutlich: „Wir müssen weg von der linearen Idee von Management hin zu einem Kalibrieren von Ideen von Veränderung“. In der Sprache der Agilität nennt man das auch „iteratives“ Vorgehen. Dabei handelt es sich um das tastende suchende Ausprobieren, jederzeit bereit, einen Schritt zurückzugehen, zu justieren und neu zu starten. Wer Transformationskompetenz besitzt, hat gelernt, iterativ vorzugehen und weiß, dass Veränderungssituationen komplexer sind, als sie scheinen.
Lernagilität leben: Lernchancen statt Fehlern
Die Haltung zu Fehlern ist dabei, sich zu ändern. Fehler gelten zunehmend als Lernchancen. Der Begriff des „Sündenbocks“ existiert zwar weiterhin. Doch ein unabsichtlicher Fehler gilt weniger als Makel. Hier können wir viel von den Kindern lernen. Sie testen neugierig aus. Sie lernen aus Fehlern und versuchen es neu, wenn wir sie nicht entmutigen oder daran hindern. Bei Erwachsenen im Berufsleben sprechen wir anschließend gern von „Lernagilität“. Zum Kalibrieren der Ideen von Veränderung gehört auch, dass wir uns intergenerational und interdisziplinär austauschen. Wir sollten uns als ein interdependentes System verstehen, in dem alles miteinander zusammenhängt und auf einander wirkt. Auch dies ist ein Ziel des EduWorkCamps. Im EduWorkCamp geht es darum, Menschen in den Dialog zu bringen, deren Lebenswelten sich selten oder gar nicht überschneiden. In offenen Lernräumen erfahren die Anwesenden miteinander eigenständiges Denken und können neue Ideen für aktuelle Herausforderungen entwickeln. Es geht nicht um Perfektion. Sie dürfen Fehler machen und gewinnen Vertrauen in ihre eigenen Ressourcen und Potenziale. Zu erfahren, dass sie mit Unwägbarkeiten wie einem „fehlenden“ Programm mit Freude und kreativ umgehen und sich darin entwickeln können, stärkt das Vertrauen in die eigene Selbstwirksamkeit. Am Ende steht das Vertrauen in die eigene Transformationskompetenz.
Transformationskompetenz entwickeln: Veränderung als Chance für Lernfreude
Der Veränderungsdruck durch die schnelle Digitalisierung ist gleichermaßen auch eine Chance. Wir sind aufgerufen, Annahmen über Gesellschaft, Leben und Arbeiten neu und anders zu denken und zu gestalten. Teilweise traumatische Veränderungsprozesse am Arbeitsplatz und in anderen Lebensbereichen lassen sich auch auch als Herausforderung bewerten. Es gilt, gesamtgesellschaftlich „Transformationskompetenz“ als wesentliche Zukunftskompetenz zu entwickeln. Doch dafür braucht es immer wieder Zeit- und Lernräume. Vielleicht hat, wer Transformationskompetenz besitzt, auch einen Schlüssel für Lern“Freude“. Den Transformationskompetenz heißt, tiefes Vertrauen in die eigene Selbstwirksamkeit haben und die Fähigkeit, aus Veränderungen zu lernen und damit umzugehen. „Die reflexive Bewusstwerdung (Lernen) der eigenen Transformationserfahrung und -kompetenz fördert somit möglicherweise einen gezielteren Umgang mit zukünftigen Wandelsituationen.“ (www.netzwerk.dritte-generation-ost.de)
„Eine andere Art des In-der-Welt-Seins ist möglich“
Hartmut Rosa spricht immer wieder von einem „gelingenden Leben“. „Eine andere Art des In-der-Welt-Seins ist möglich, aber sie wird sich nur als das Ergebnis einer simultanen und konzertierten politischen, ökonomischen und kulturellen Revolution realisieren lassen.“ (S. 56) Für das „gelingende Leben“ braucht es „Time to Think“. Insofern versteht sich das EduWorkCamp durchaus als „partizipative Pioniergruppe“, wie Dr. Maja Göpel die Ursprünge gesellschaftlicher Transformation bezeichnet. Wer sich umsieht, wird immer mehr dieser zivilgesellschaftlichen Initiativen feststellen. Die Bürgerinnen und Bürger suchen und versuchen sich in neuen Antworten, stellen immer mehr Fragen. „Wie wollen wir morgen miteinander leben und wirtschaften als menschliche Gesellschaft – national und international? Wie definieren wir Erfolg, wie ein „gelingendes Leben“? Und: Was können wir uns und dem Planeten zumuten, wenn wir eine Lebensgrundlage für alle erhalten und schaffen wollen? – Wie wollen, wie müssen wir lernen? Was müssen wir lernen, wo, wann, mit und von wem oder was und weshalb? Unsere Gesellschaft befindet sich auf dem Weg zur Transformationskompetenz und viele Begegnungen in „Thinking Envrionments“ wie dem EduWorkCamp entwickeln und stärken diese Kraft eines jeden weiter.
„Warum tun wir, was wir tun?“ – Der AufmerksamkeitsShift für die Zukunft
Indem wir diese Frage stellen, vollziehen wir einen Aufmerksamkeitsshift und darin liegt eine große Chance. Diese Frage ist Ausdruck eigenständigen Denkens, Zeichen für wachsende Transformationskompetenz – und immer mehr Menschen stellen sie. Heute reicht es nicht mehr aus, einige wenige für uns denken zu lassen. Die Zukunft, um die es geht, verspricht, noch komplexer zu werden, als die Gegenwart, die uns bereits überfordert. Sie lässt sich nicht mehr alleine denken. Das gilt für unser zivilgesellschaftliches Miteinander, das Bildungssystem, ebenso wie für Führungskonzepte und Organisationsstrukturen. Auch dies ein Grund für die aktuelle Hochkonjunktur von Konzepten wie „Eigenverantwortung, Selbstorganisation, das kollegial geführte Unternehmen, Soziokratie, Holokratie“ und weitere Organisations- und Führungskonzepte. Es geht um die Delegation von Denkverantwortung auf mündige Menschen. Diese Aufgabe lässt sich nur im Austausch und gemeinsam denken.
LernRaum – LernZeit: Balance herstellen – Denkräume schaffen
Doch um wirklich Neues zu denken und und zu durchdringen, benötigen wir die Fähigkeit und Bereitschaft zu lernen und (uns) zu verändern. Um diese Fähigkeit (wieder) zu (er)wecken, sind Zeit und Raum notwendig. Nachhaltiges Lernen benötigt eine offene Haltung der Wertschätzung und Anerkennung. Wir vom EduWorkCamp glauben, dass Unternehmen, Schulen, Universitäten und alle Orte, an denen Menschen gemeinsam etwas entwickeln, erschaffen und bearbeiten, Inseln und Denkräume benötigen. Diese Räume sollten Verlangsamung und tiefes Zuhören ermöglichen, um Neues zu denken, kreativ zu entwickeln, manches Mal disruptiv und möglichst vorausschauend zu handeln. Je schneller sich das Karrussell unseres Lebens dreht, umso dringlicher und wertvoller sind diese Zeit-Inseln. Sie erlauben uns, wirklich zu „denken“ und nicht nur reaktiv zu handeln. In diesen Inseln kann unserer Transformationskompetenz sich entfalten und weiter wachsen. Je höher die Komplexität unserer VUKA-Welt (Volatilität, Unsicherheit, Komplexität, Ambiguität), umso wichtiger wird diese verlangsamende Gegenbewegung. Die steigende Burnout-Rate auch bei Kindern und Jugendlichen zeigt, was passiert, wenn wir diese Zeit- und Denk-Inseln nicht in unseren Alltag integrieren.
Thinking Environment: Innovative Lebens- & Arbeitsentwürfe denken
Die Frage lautet: Wie integrieren wir diese Lernräume in unsere verschiedenen Lebensbereiche: Lernen.Arbeiten.SEIN? – Das EduWorkCamp im BarCamp Format macht selbstbestimmtes freies Lernen und Denken erlebbar und zeigt, welche Tiefe und kraftvolle Energie und Kreativität sich dabei entzünden für das eigene Leben, Arbeiten und SEIN. Diese Lernerfahrungen sind selbstverständlich auch auf andere Lebensbereichen übertragbar – vorausgesetzt, das „Thinking Environment“ wird geschaffen.
Wir glauben, dass ein intergenerationaler interdisziplinärer Austausch nötig ist. Dieser befähigt uns, neue Lebensentwürfe zu denken, Offenheit und Bereitschaft für Veränderungen zu entwickeln, und ihnen kreativ zu begegnen – in allen Bereichen unserer Gesellschaft.
Es geht darum, Fragen zu stellen nach den Werten unseres gesellschaftlichen Denken und Handelns. Es geht darum, zu klären, ob und inwieweit die Werte, nach denen wir handeln, die passenden sind für die Ökologie unseres Planeten und eine lebenswerte Zukunft in einer menschlichen Gemeinschaft.
Und es geht darum, Menschen zu unterstützen, neugierig und offen zu bleiben bis ins hohe Alter. Wer Selbstverständlichkeiten in Frage stellt und immer wieder neue Fragen aufwirft, öffnet sich gedanklich der Veränderung und innovativen Wegen. Er besitzt Transformationskompetenz, die Fähigkeit mit Wandel umzugehen.
Simon M. Hoffmann (Demokratische Stimme der Jugend e.V.) sagt in einem Interview mit Christoph Schmitt (Bildungsdesign.ch) es geht darum „Den Mut zu finden, Dinge anders zu machen, ohne zu wissen, wie es geht.“ Recht hat er. Das ist heute unsere Aufgabe. Denn die Zeit drängt…
Leben LERNEN: Sinn und Nutzen in und außerhalb der Erbwerbstätigkeit
Arbeit ist ein bis heute wesentlicher Teil unserer Existenz. Doch neben neuen Berufen und Tätigkeiten droht durch die Digitalisierung künftig vielen Menschen der Verlust ihrer Arbeit. Sich Gedanken zu machen, wie künftig Menschen Sinn und Nutzen entwickeln können – unabhängig von dem Erwerbsleben – ist eine Aufgabe, die uns alle betrifft.
Hier können wir mit und von den beiden Enden unserer Gesellschaft, den Kindern und älteren Menschen für eine menschliche Zukunft lernen. Eine Zukunft, in der uns die Künstliche Intelligenz unabhängig von Erwerbstätigkeit unterstützt, ohne uns als Spezies Mensch zu ersetzen.
Die meisten Politiker suchen hier ebenso nach Antworten wie Wirtschaftsvertreter, Wissenschaftler, Philosophen, Künstler und wir anderen Bürger. Was auf uns zukommt, ist größer, als dass es einzelne Menschen denken können. Hier sind wir als zivilgesellschaftlich agierende Gesellschaft gefragt. Unser BarCamp ist Ausdruck dieser Erkenntnis. Es ist ein Forum für alle, die gemeinsam authentisch miteinander denken und zuhören wollen. So können wir mit wachsender Transformationskompetenz als Teil einer geschehenden Transformation diese Gesellschaft friedlich mitgestalten auf dem Weg in eine lebenswerte Zukunft.
Martina Tadli, 11.03.2018 – MitInitiatorin und Moderatorin des EduWorkCamp